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Rezension: Pubertät – loslassen und halt geben

Jan-Uwe Rogge, PubertätRogge, Jan-Uwe
Pubertät – loslassen und haltgeben
Rowohlt 7. Auflage 2013
4 von 5 Punkten

Ein Bestseller. Erste Auflage von 1998. Rogge ist Jg. 1947, vh, hat einen Sohn und arbeitet als Familien und Kommunikationsberater. Rogge merkt man Ahnung und Erfahrung an. Was ich sehr gut finde ist, dass sein Buch eine Grundgelassenheit ausstrahlt und auch als Nachschlagewerk benutzt werden kann, wenn man sich über das Inhaltverzeichnis für sich wichtige Themen raussucht. Man kann auch nur die Zusammenfassung am Schluss lesen. Im Folgenden habe ich nur Dinge aufgeschrieben, die ich (aktuell) wichtig für mich finde. Es ist also keine klassische Rezension oder Zusammenfassung.

Die drei Grundgedanken des Buches werden im Vorwort genannt:

  • „Erziehung hat aber mit Beziehung zu tun, mit beharrlicher, nicht immer harmonischer Beziehungsarbeit. Wer sich aus der Erziehung zurückzieht, zieht sich aus der Beziehung zurück, lässt Jugendliche allein.“ (:25)
  • Es „… ist wichtig, im Gespräch zu bleiben, Normen und Werte zu vermitteln. Nur in der Reibung, nur im Abarbeiten an vorgelebten Modellen kann der Pubertierende diese prüfen und übernehmen.“ (:25)
  • „Nicht allein der Heranwachsende durchlebt die Phase der Pubertät. Dies gilt gleichermaßen für Väter und Mütter. Auch sie erleben körperliche Veränderung. Das Familienleben >pubertiert<.“ (:26)

1. Nicht nur die Kinder kommen in die Pubertät
Eltern erleben ihre zweite Pubertät / Die Herausforderung der Väter: Heranwachsende schätzen an ihren Vätern die spielerischen, sportlichen, vor allem außerhäuslichen Unternehmungen, das Austauschen über zukünftige Fragen und die in der Regel vorhandene etwas größere zeitlich-emotionale Distanz. (:47) / Wie Kinder sich zu Erwachsenen entwickeln (52f): Sie sind Deuter und Architekten ihrer Lebenswelt. Eltern haben die Individualität unbedingt zu respektieren und sollten Vergleichen lassen. Ehe Venus und Apoll sich entwickeln gibt es Stadien, die keinem Schönheitsideal entsprechen. Die Menstruation ist ein Ereignis, dass keine Entsprechung im Pubertätsverlauf von Jungen findet. Auch bei Jungen kann es zu einer Vergrößerung der Brustdrüsen kommen, die fälschlicherweise als Verweiblichung interpretiert wird. Die Umgestaltung des Körpers kommt einer zweiten Geburt gleich und das kostet Kraft und Energie und kann zu Leistungsabfällen in anderen Bereichen führen. Sie haben ein eigenes Tempo, um sich zu entwickeln. Jedes Kind hat seinen eigenen Fahrplan. Halten sie sich als Gesprächspartner zur Verfügung. Normalisieren statt dramatisieren, also Infos über die Pubertät und ihren Verlauf geben. Es kann auch zu kleinkindhaften Kuschelbedürfnissen kommen. Herabsetzung und Ablehnung der Eltern gelingen nur dann, wenn das Urvertrauen vorhanden ist, der Spielraum und Anspannung zulässt. Kontakt zu Gleichaltrigen wird super wichtig. Bestimmte Themen werden sobald Freunde auftreten, aus der Eltern-Kind-Kommunikation ausgeklammert. Gelassenheit bei Freundschaften, aber nicht unbedingt Gewährenlassen. Nur im Gefühl von Schutz und Geborgenheit können Kinder das Elternhaus loslassen. Die Phase der P ist wie die eines jungen Hummers, der sich in seine Höhle zurückzieht und seinen Panzer ausbildet. Es stinkt, es ist dunkel, der Hummer ist nicht ansprechbar,… aber eines Tages kommt er als junger starker Hummer heraus, mit neuem Mantel. Elternmeinung wird dann gesucht, wenn Eltern nach dem Grundsatz handeln: „Hilf mir, aber zeig mir nicht, dass du hilfst.“ Annahme, Ermutigung, Übertragung von Verantwortung, Stärkung des Selbstbewusstseins, Gesprächsbereitschaft, Nichtvergleich helfen. / Körperbewußtsein, Selbstvertrauen und Sexualität: Normalisieren ist das Gebot der Stunde und befriedigt den Wissensdurst. Sachfragen sind Beziehungsfragen. Heranwachsende vergleichen sich ständig anatomisch. Je weniger Mädchen auf die erste Periode vorbereitet sind, desto problematischer wirkt sich das aufs Körperbewußtsein und Gefühle aus. Es muss auch die Frage der Verhütung besprochen werden. Ebenso soll der Junge auf den ersten Samenerguss vorbereitet werden, damit er damit auch keine negativen Gefühle verbindet. Sexualität soll als positive Lebenserfahrung vermittelt werden, genauso wie das Wissen über die Sexualorgane und ihre Funktionen (Exkurs zur Hirnforschung: 98f.). Wenn Jugendliche verknallt sind und ihr Verstand im Eimer ist, dann gilt es noch mal mit Sexualerziehung anzufangen. Immer wieder muss über Verhütung gesprochen werden. Schamerziehung stellt einen zentralen Aspekt in der Sexualerziehung dar. Dabei kommt es auf die Balance an.

2. Pubertierende wollen Erziehung, Pubertierende brauchen Orientierung
Vom Mut zur Gelassenheit und vom Mut zu Fehlern: „Nicht eine einzelne problematische Erziehungsmaßnahme wirkt sich für alle Zeit schädigend aus, aber erzieherische Einflüsse, die auf Dauer und gleichbleibend kindliche Bedürfnisse verkennen und missachten, gar unterdrücken, sind entwicklungshemmend und traumatisieren.“ (:122) Fehler müssen als Chance begriffen werden. Fehler kann man nicht vermeiden. Perfektionismus ist fehl am Platz: man kann Heranwachsende nicht beliebig formen. Besser eine Schnecke begleiten, als ihr Flügel anzukleben. Wenn das Kind sich zurückziehen will, dann darf es das. „Erst im Wissen um den sicheren Hafen, den man bei Sturm und Unwetter jederzeit anlaufen kann, können Pubertierende den Hafen verlassen, um den unbekannten Ozean zu erkunden.“ Man darf sich auch an den eigenen Eltern bei der Erziehung orientieren: „Wer alles anders machen will, beraubt sich seiner Wurzeln, bricht mit positiven Traditionen.“ (:135) Aber: „Es (sic!) anders zu machen … ist dort unabdingbar, wo sie als Erniedrigung und Zurichtung empfunden wurden.“ (:135) „Die Alltagssituationen selber frustrieren weniger als die Meinungen und die Einstellungen, mit denen man viele Erziehungssituationen bewertet. Eltern und Pädagogen konstruieren ihre eigene Erziehungswirklichkeit, indem sie sie positiv oder negativ deuten.“ (:136) „Falsch ist aber nur dann etwas, wenn man weiß, was richtig ist.“ (:137) / Halt geben und Beziehung herstellen: „Wer sich aus der Erziehung zurückzieht, zieht sich, zumindest in der subjektiven Einschätzung Heranwachsender, auch aus der Beziehung zurück.“ (:139) „Grenzüberschreitende Aktionen sind deshalb nicht selten Hilferufe, mit denen nach Beziehung und persönlicher, gelebter Autorität geradezu geschrien wird.“ (:140). „Sich auf jemanden zu verlassen heißt aber auch, ihn zu lassen.“ (:147) / Jugendliche brauchen Grenzen: Jugendliche testen Grenzen. Die Räume hinter den Grenzen interessieren Heranwachsende. Grenzen müssen eingehalten werden, sonst hat das Konsequenzen. „Die Konsequenz baut darauf auf, dass Kinder an der Beseitigung von Störungen mitarbeiten wollen.“ (:166) Hier hilft es die natürliche oder logische Folge von Handlungen ablaufen zu lassen. Das entschärft Konfliktsituationen. Grenzverletzungen müssen Folgen haben. Aber es bringt nichts an Konsequenzen festzuhalten, die nicht funktionieren. Grenzüberschreitungen zeigen aber vielleicht auch, dass bisherigen Regeln nicht mehr passen und erweitert werden müssen. Gerade in der Pubertät kommt es daher zu ständigen Neuabsprachen. Beim Konflikt muss überlegt werden, ob es ein Beziehungskonflikt oder Sachkonflikt ist. Beziehungskonflikte können nur durch das Erkennen des Sinns der Störung behoben werden.

3. Klassische Konflikte im Familienalltag
Miteinander reden – Miteinander streiten: >Tue mehr von dem, was funktioniert<, also hier im Sinne von guten Streitlösungen zu verstehen. Bei ständigem Streit kann man sich der „Wunderfrage“ (:216) stellen: Was wäre beim anderen anders, wenn ein Wunder geschehen würde? Woran würdest du das merken? Woran würde der andere es bei dir merken? / Fernsehen und Computer, Handy und Internet: „Ich bin gerade gestresst. Ich möchte dass du die Musik leiser stellst!“ Das ist eine bessere Aussage, als über die Musik herzuziehen. Wenn Inhalte von Serien und Spielen nicht gefallen, dann: „Formulieren sie ihre Kritik in Ich-Botschaften! Vermeiden sie Moralpredigten und besserwisserische Belehrungen! Vermeiden sie Verbote! Wecken sie Einsicht! Verbote führen zu Heimlichkeiten, Einsicht dazu, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.“ (:243) / Konsumwünsche und Selbstbedienungsmentalität: „Häusliches Zusammenleben funktioniert nicht auf der Grundlage von Bestechung, weil so der Wunsch nach immer mehr, nach dauernder Belohnung entsteht.“ (:247) „Das Gefühl von Zugehörigkeit entwickelt sich über aktives Mithandeln.“ / Schule und die leidigen Hausaufgaben: Hausaufgaben müssen wie ein Ritual eingeführt sein. „Die ideale Zeit für die Hausaufgaben, darüber sind sich viele Experten einig, liegt zwischen 16 und 17 Uhr. Und ein weiterer Punkt ist unstrittig: Nach der Schule, nach dem Mittagessen brauchen Kinder Entspannung, Zeit zum Spielen, zur Bewegung…. Der feste Beginn gehört genauso zur Absprache, wie deren Länge, der vorgesehene Ablauf sowie das Ende.“ (:260). Das Kind entwickelt ein Zeitgefühl für die „doofen“ Aufgaben und weiß, dass sie auch vorübergehen. 9-11Jahre: 1h, mit Pause dazwischen. Aufgaben vom Kind am Anfang erklären lassen und am Ende kontrollieren. Nicht begleiten. Hilfe zur Selbsthilfe geben. Bei der Ergebnisskontrolle mehr auf das achten, was das Kind richtig gemacht hat und das loben. Dann die Fehler aufzeigen. Weitere Tipps siehe im Buch von 253-265. / Der Start ins Berufsleben

4. Pubertät und ihre Risiken
Neuronen und Hormone – das Gehirn verändert sich: Das Gehirn wird wie ein Kaufhaus umgebaut, bei dem alles außer die Stützpfeiler abgerissen wird, um es dann komplett neu zu strukturieren. Aber dabei geht der Verkauf trotzt Umbau weiter. Beim Umbau werden Ressourcen benötigt. Das führt zu Vergesslichkeit und Gleichgültigkeit. Jugendliche brauchen dann einen starken Kick um sich zu fühlen. Geistige und motorische Aktivitäten sind wichtiger denn je, um die >Umbauarbeiten< zu unterstützen. Tipp für Eltern: Sich in Gedanken ein Schild um den Hals des Jugendlichen vorstellen: „Das Leben geht trotz Umbaus weiter! Für etwaige Unannehmlichkeiten bitte ich um Verständnis!“ (:275) / Autoaggression und Zerstörung als Hilferuf: „Auch das betrunkene Kind bleibt das eigene Kind und möchte von den Eltern vor allem dann angenommen sein, wenn es Grenzen überschritten hat.“ (:301) / Schule, Aggression und Gewalt: Erziehung ist Vorbild und Liebe. / Gewalt, Medien und die Faszination des Computers

Nachgedanken (325f)
„Ablösung meint nicht Auflösung der Eltern-Kind-Beziehung. Ablösung bedeutet vielmehr eine Umgestaltung dieser Beziehung. Man geht anders aufeinander zu, stellt eine neue Verbundenheit her. Sich voneinander zu lösen und gleichzeitig verbunden zu fühlen sind zwei Dinge, die zusammengehören … Eine Ablösung gelingt Heranwachsenden ausschließlich vor dem Hintergrund einer gefühlsmäßig stabilen Beziehung zu den Eltern. Eine elterliche, wechselseitige und partnerschaftliche Beziehung bietet Jugendlichen die Grundlagen, um selbstständig zu werden, Verantwortung für sich zu übernehmen und um sich selbst zu finden.“ (:325f)
Aus der Elternschaft befreit zu sein bedeutet nicht die Aufgabe der Eltern-Rolle. Unterstützung und Beratung sind eine lebenslange Aufgabe.
„Versuchen sie nicht, im Nachhinein etwas gutzumachen, was sie versäumt haben. Gehen sie offen mit ihren Schuldgefühlen um! Sprechen sie das an, denn Kinder können vergeben. Halten sie die Balance zwischen Vertrauen in den jungen Erwachsenen und einem unaufgeregten, unaufdringlichen Interesse an ihren Kindern, das zeigt: Ich bin da, wenn du mich brauchst!“ (:333)

Kurz und Bündig (336f)
Gut noch mal alles Wichtige gebündelt.
„Je normaler, je natürlicher die Menarche erfahren wird, umso selbstbewusster, umso gestärkter macht sich ein Mädchen auf den Weg in die Welt, in das Leben einer selbstbewussten und autonomen Frau.“ (:336)
„Je positiver ein Pubertierender seinen Körper erlebt, je mehr er sich in ihm zu Hause fühlt, umso angenehmer wird er den ersten Samenerguss erfahren, auch wenn er durchaus ambivalente Gefühle hinterlässt.“ (:337)
Sexualerziehung ist Werteerziehung
„Selbstdisziplin erwirbt man durch Freiheit. Und Selbstdisziplin heißt: Heranwachsende nicht >gut< zu machen, sondern dass sie sich wünschen, >gut< zu sein. Dazu bedarf es festgelegter/vereinbarter Regeln, Rituale und Grenzen, die sich am Alter… orientieren, die Erziehung als Begleitung ins Leben verstehen, …“ (:341)
Bei Stimmungsschwankungen ist elterliche Gelassenheit das Gebot der Stunde, die aber nicht Gleichgültigkeit und Gewährenlassen meint. Das Verhalten des Kindes ist nicht ein Ausdruck von Erziehungsfehlern, sondern einer Entwicklungsphase, die vorübergeht.“